Während des Afghanistan-Kriegs war ich mit drei Journalistenkollegen in Imam Sahib, einer schläfrigen Kleinstadt in der nördlichen Provinz Kunduz. Wir wohnten im Gästehaus des örtlichen Fürsten. Die Taliban waren eben besiegt und aus der Stadt vertrieben worden. Solche Momente des Umbruchs sind immer spannend. Die ehemalige Ordnungsmacht verschwindet, hinterlässt ein Vakuum, und es braucht meistens ein paar Tage, bis sich die Verhältnisse ordnen, neue Regeln etabliert werden, und die neue Macht sich einrichtet.
Dass die Taliban weg waren, bedeutete für die Frauen von Imam Sahib: Dass sie zum ersten Mal seit vielen Jahren die Burkas ablegen durften, die ihnen die Taliban tagein, tagaus aufgezwungen hatten. Man darf sich die berüchtigten hellblauen Stoff-Überwürfe nicht als feines, traditionelles Handwerksprodukt vorstellen. Eine Burka ist ein lieblos gefertigtes Billigding aus Polyester. Wenn man sie aufsetzt, schwitzt man sofort. Haut und Haare kleben. Von den Augen liegt ein Fenster mit einem Stoffgitter; wenn es verrutscht - was ständig passiert -, sieht man überhaupt nichts mehr. Unter der Burka kann man nicht essen, nicht deutlich sprechen, die Hände nur eingeschränkt benützen und auch sonst kaum kommunizieren. Man ist stummgeschaltet, als Person nicht mehr erkennbar. Wie ein Geist huscht man durch die Straßen. Und genau das ist wohl auch der Sinn: Frauen aus der Wahrnehmung zu löschen.
Ich hatte damit gerechnet, dass sich die Frauen von Imam Sahib in dem Moment, als die Taliban weg waren, ihre Burkas freudig vom Kopf reißen und öffentlich feiern würden. Aber das war ein Irrtum. Enthüllung ist gar nicht so leicht, wenn man sich an die Verhüllung als Normalzustand erst einmal gewöhnt hat. Ganz zaghaft nur traten die Frauen vor die Tür. Man fürchtete missbilligende Blicke und Übergriffe. Immerhin waren ja jetzt viele fremde Männer und Soldaten auf den Straßen. Der Burka-Händler am Markt, der mir seine Modelle vorführte, flohlockte: Er verkaufe seit dem Abzug der Taliban sogar noch mehr Burkas als vorher. Weil sich die Frauen, die sich vorher zuhause verbarrikadiert hatten, mit Burka zumindest wieder heraus wagten.
Ich, die Ausländerin, muss in dieser Umgebung ein seltsamer Anblick gewesen sein. Ich vermute: Als „Frau“ wurde ich gar nicht wahrgenommen, sondern eher als Alien. Die Frauen, Tanten und Nichten des Fürsten im Nachbarhof beobachteten mich zehn Tage lang scheu aus den Augenwinkeln. Kurz vor meiner Abreise schließlich fassten sie sich ein Herz und überreichten mir, umringt von einer quengelnden Kinderschar, ein Geschenk. Eine Pappschachtel war das, gefüllt mit einem roten Polyester-BH, einer hautfarbenen Nylonstrumpfhose und einem zur Hälfte benützten Lippenstift. Unter den Taliban stand auf den Besitz solcher Dinge die Todesstrafe durch Steinigung.
Ich war zu Tränen gerührt. Gleichzeitig bin mir bis heute nicht ganz sicher, was mir die Frauen mit dem Geschenk eigentlich sagen wollten. Wollten sie mir ihre Abneigung gegen die Taliban zeigen? Ihre geheime Liebe zu Modezeitschriften? Oder tat ich ihnen einfach leid, mit meinen klobigen Bergschuhen, meinen verfilzten Haaren, und sie wollten mir helfen, ein bisschen weiblicher auszuschauen?
Ich hüte die Schachtel jedenfalls bis heute wie einen Schatz. Wenn ich Nachrichten aus Afghanistan höre, muss ich an die Frauen von Imam Sahib denken. Inzwischen sind die Taliban dort wieder an der Macht. Was aus den Frauen wohl geworden ist?
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