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Freitag, 13. Dezember 2019

Station 4: Zu Hause in Wien, März 1995

Zuhören und da sein

Ich wohnte bei meinem Freund im Stuwerviertel im 2. Bezirk, als Jörg Haider Mitte der Neunzigerjahre seine ersten überraschenden Wahlerfolge einfuhr. Das Stuwerviertel war damals keine schicke Gegend. Schlenderte man hungrig über den Vorgartenmarkt, hatte man nur die Wahl zwischen zwei Tranklerhütten, vor denen finster dreinblickende Kampfhunde in der Sonne dösten. Autofahrer kreisten im Schrittempo durch die Gassen, auf der Suche nach dem Straßenstrich. An der Donau abweisende Gemeindebau-Blöcke, auf den beschatteten Querstraßen düstere unsanierte Zinshäuser.


In unserem Wahlsprengel fuhr die FPÖ damals ihr bestes Wiener Ergebnis ein. Ich wollte wissen: Warum? Ich machte mich auf die Suche. Ging in die Bäckerei, zum Friseur, in die Putzerei. Am liebsten besuchte ich die Trafikantin in unserem Haus. Damals rauchte man in Trafiken noch. Es gab Briefmarken und Brieflose. Man kam, um zu tratschen und blieb länger als notwendig. „Die da oben haben uns vergessen“, sagten die Leute in der Trafik. „Der Sperrmüll vor der Tür wird seit Wochen nicht abgeholt.“ Oder: „Uns hört keiner zu.“

Eine jener Trafik-Szenen ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Eine Frau, Mitte vierzig wird sie gewesen sein, erzählte von ihrem Job (Teilzeit, bei der Gemeinde), von ihrer Wohnung (zweieinhalb Zimmer, Gemeindebau), und von ihrer Küche. Die Küchenfliesen lösen sich von der Wand, eine nach der anderen, klagte sie. Beim Hausmeister habe sie sich bereits beschwert, bei der Gemeinde, bei der SPÖ-Bezirksorganisation. Aber niemand kümmere sich darum. Niemand fühle sich für ihre Fliesen zuständig. Immer mehr redete sich die Frau in Rage. „Denen sind wir wurscht!“, rief sie schließlich, und schob mit triumphierendem Unterton nach: „Deswegen wähle ich jetzt die FPÖ!“

Ich weiß noch genau, wie perplex ich damals war. Unsere Wohnung (Altbau, unsaniert), kostete deutlich mehr als die Wohnung dieser Frau. Auch unsere Küche war in schlechtem Zustand. Dennoch wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, die Politik für das Anpicken meiner Fliesen verantwortlich zu machen. Und glaubte die Frau wirklich, das Problem würde gelöst, wenn die FPÖ regiert?

Verstanden habe ich die Sache erst, als ich, viele Jahre später, Herrn L. kennenlernte. Herr L. ist Hausmeister im Gemeindebau, einer der letzten seiner Art. Er sorgt für Ordnung in den Müllräumen und in den Waschküchen, welchselt Glühbirnen, schaufelt im Winter Schnee und recht im Herbst das Laub zusammen. Vor allem aber: „Ich bin da, falls jemand reden will.“ Und das wollen viele. Es geht um Lärm, Schmutz, Kinder, Hunde, nicht grüßende Nachbarn, Sperrmüll. In jedem einzelnen dieser Mikrokonflikte steckt ein Keim, der sich zu Grant, Feinseligkeit und tiefen Kränkungen auswachsen kann. Zu Hass auf „die Politik“. Auf „die da oben“. Auf jene, die „sich nicht um uns kümmern“. Und zu Rachegefühlen. „Ich bin der Blitzableiter“, sagte Herr L. damals, lässig auf seinen Rechen gestützt. „Den brauchen die Leute, glauben Sie mir.“

Inzwischen weiß ich, dass Herr L. Recht hatte. Im Stuwerviertel hat sich vieles verändert, seit wir weggezogen sind. Der Straßenstrich ist verschwunden, Universitäten sind hergezogen, viele Dachböden wurden ausgebaut, die Wohnungspreise sind rasant gestiegen. Am Vorgartenmarkt gibt es heute Bio-Gemüse und asiatische Fusion-Küche. Die Alleen sind schattig wie immer, man ahnt die Nähe der Donau. Was für ein schönes Viertel!

Aber Spannungen und Ängste gibt es immer neue. Und immer noch braucht es einen Blitzableiter. Jemanden, der da ist und zuhört.

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