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Samstag, 14. Dezember 2019

Station 5: Chicago, Juli 1996

Amerika lieben Amerika hassen

Das Angebot der amerikanischen Botschaft kam überraschend. Es gebe da ein Programm, zu dem junge Journalistinnen und Journalisten aus der ganzen Welt in die USA eingeladen werden. Man habe vier Wochen Zeit, bekäme alle Spesen bezahlt, und dürfe Reiseroute und Programm frei wählen. What do you want to see, Sibylle?


Sehr witzig, dachte ich zunächst. Eine PR-Einladung auf Staatskosten – die werden mich doch niemals alles sehen lassen, was ich sehen will? Spräche Österreich eine derartige Einladung aus, das Programm läge auf der Hand: Salzburg, UNO-City, ein Opernbesuch und nachher Sachertorte. Denn welches Land zeigt schon freiwillig seine hässlichen Seiten her?

Viel wurde in jener Zeit über die Crack-Epidemie in den USA berichtet. Über die Gewalt in den Innenstädten, die überfüllten Gefängnisse und das kaputte Justizsystem. Keck schrieb ich also auf meine Wunschliste: Einen Besuch in einem Hochsicherheitsgefängnis. Eine Fahrt mit einer Polizeistreife in einem Armen-Getto. Und ich würde gern die Frage klären, wieviele Menschen in den USA unschuldig hingerichtet werden.

Die Antwort kam prompt: Flugtickets, die Telefonnummern privater Gastgeber, bei denen ich in jeder Stadt wohnen würde, plus Schecks fürs Taschengeld. Bald schon stand ich im Hochsicherheitsgefägnis, dem Stateville Correctional Center, in einem kreisrunden Atrium, die offenen Zellen in vielen Stockwerken übereinandergeschlichtet. Die Häftlinge johlten, rüttelten an den Gitterstäben, spuckten auf mich herunter. Zu Beginn der Nachtschicht stieg ich mit einem Polizisten und einer Polizistin in einen Streifenwagen und fuhr durch die South Side von Chicago. Nach einem Notruf wegen häuslicher Gewalt in einer Sozialwohnsiedlung schalteten wir die Sirene ein. Ich musste die Taschenlampe halten, während die Beamten versuchten, einen wildgewordenen Mann von seiner Frau und seiner Schwiegermutter zu trennen.

Schließlich traf ich eine Forschungsgruppe an einer Universität, die in akribischer Kleinarbeit Fehlurteile der Justiz aufdeckte. Mithilfe von DNA-Analysen wiesen sie nach, welche vermeintlichen Mörder jahrelang unschuldig in Todeszellen saßen, und dass bei ihren Verurteilungen oft systematischer Rassismus am Werk gewesen war.

"Warum bloß zeigen Sie mir das alles?", entfuhr es mir da irgendwann. Wäre so ein PR-Programm nicht dazu da, allen zu zeigen, wie großartig Amerika ist, ein Vorbild für die ganze Welt? Doch in diesem Moment hatte ich mir die Antwort bereits selbst gegeben. Genau in dieser Offenheit liegt die Stärke dieses Landes.

Liegt? Oder lag?

Ich habe viel mit Amerika gehadert seither. Doch losgelassen hat es mich nie. Zwei Jahre lang schlug ich mich in New York als Freiberuflerin durch. Ich hatte kaum Geld. War nicht krankenversichert, teilte meine winzige Wohnung mit Kakerlaken. Telefon und Modem funktionierten nur erratisch, weil der Verteilerkasten im Freien hing und es in die Anschlüsse regnete – seither weiß ich, war eine gute öffentliche Instrastruktur wert ist. Ich litt oft schreckliche Einsamkeit, habe die Verstörung nach 9/11 erlebt, die ratlose Frage meiner amerikanischen Freundinnen: „Warum hasst uns die Welt bloß so?“ Dann kamen sinnlose Kriege. Guantanamo. Trump.

Doch ich weiß ganz sicher: Das wunderbare Amerika, das ich liebe, gibt es noch. Es ist stärker als das hässliche. Und es kommt immer wieder.

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